Ein unvergessenes Stück Handballgeschichte

Ralf Wilke blickt auf die Blütezeit des legendären Sportplatzes an der Rehstraße zurück

 

Frühjahr 2020 – die Corona-Krise hat auch den Handballsport mit voller Wucht erwischt. Die Saison wurde vorzeitig abgebrochen, Spiele und Training sind nicht möglich. Gleichzeitig gewinnen Solidarität und Hilfsbereitschaft an Bedeutung. Ich gehöre zur alten Generation, also zur so genannten „Risikogruppe“. Zusammen mit meiner Frau Jutta gilt es deshalb, alle Anordnungen der verantwortlichen Behörden zu befolgen – sprich: zu Hause zu bleiben.

 

Doch unser Präsident Detlef Spruth hat ein System entwickelt, mit dessen Hilfe besagter Risikogruppe Hilfe angeboten wird. Besonders zeichnen sich dabei die FSJler des Vereins, allesamt Mitglieder der U19-Bundesliga-Mannschaft, aus.

 

In Zeiten der Krise und der Einschränkungen bleibt viel Zeit zum Nachdenken. Nachdenken darüber, dass es am wichtigsten ist, dass die Gesundheit aller erhalten bleiben muss. Trotzdem mache ich mir auch Sorgen um unseren Handballsport.

 

Am 8. Mai erinnert man sich an das Ende des 2. Weltkrieges vor 75 Jahren. Die Nachkriegsjahre waren für die Bevölkerung ebenfalls eine ganz schwere Zeit. Auch damals war es gerade der Sport – und für uns besonders der Handball –, der die Menschen ablenkte und auf andere Gedanken brachte.

 

Ich war sieben Jahre alt, geboren im Stadtteil Wehringhausen in der Rehstraße. Hier stand die Wiege des Hagener Handballsports, und von hier aus nahm eine Erfolgsgeschichte ihren Lauf, die fortan ihresgleichen suchen sollte.

 

Sportplatz Rehstraße entstand aus einer Kippe im „Fürstentum“ Rehsiepen

 

Die Fertigstellung des Platzes gelang den Eintrachtlern im Gründungsjahr des Deutschen Handballsports, dem Jahr 1921. Durch den Tunnelbau von der Minervastraße in Wehringhausen nach Oberhagen war das gesamte Erdreich als Kippe im Rehsieper Weg angeschüttet worden, das Gelände befand sich im Besitz der Reichsbahn. Nachdem man sich mit der Reichsbahn langfristig auf eine Pacht von 100 Reichsmark pro Jahr geeinigt hatte, wurde in Eigenarbeit mit dem Bau begonnen. Mit Hacken, Schaufeln und Schubkarren ausgerüstet, schufteten die Eintracht-Mitglieder – meist nach ihrer regulären Arbeitszeit – Monate lang, ehe „ihr“ Sportplatz eröffnet werden konnte.

 

Dann der Schock: Gegen Kriegsende im Jahr 1945 wurde die Anlage durch einen Bombenhagel schwer beschädigt. Mit Hilfe der zurückkehrenden Kriegsteilnehmer konnte der Platz aber schon für das kommende Spieljahr wieder für den regulären Spielbetrieb freigegeben werden.

 

In der Zeit von 1945 bis 1962 gab sich die Elite des Deutschen Feldhandballs auf dem Platz an der Rehstraße ein Stelldichein. Der Mythos einer Straße, die Faszination des Handballs, zog alle in seinen Bann. In den Nachkriegsjahren bis hin zum Beginn der 1960er-Jahre konnte kaum ein junger Bursche dem Handballsport bei der Eintracht widerstehen. Aus den Häusern Nummer 2 bis 44 der Rehstraße gehörten zeitweise bis zu 46 (!) Spieler der Handball-Abteilung der Eintracht an, von denen im Laufe der Jahre 22 Spieler in der 1. Mannschaft zum Einsatz kamen. Erwähnenswert sicherlich auch, dass sechs bis neun Spieler mit Wohnsitz in der Rehstraße gleichzeitig in der 1. Mannschaft spielten.

 

Wir Kinder eiferten in jeder freien Minute unseren großen Vorbildern nach, die von 1945 bis 1962 mit der 1. Mannschaft immer in der höchsten deutschen Spielklasse, der Oberliga, spielten.

 

Sonntagvormittag, 11 Uhr – das ist in diesen Jahren Handballzeit. Tausende Zuschauer strömen stets zum Rehplatz, ein ganzer Stadtteil ist praktisch menschenleer, wenn die Feldhandball-Mannschaft der Eintracht aufläuft. Der Anmarsch der Zuschauer erfolgt meist zu Fuß aus allen Hagener Stadtteilen. Nur die Hagener Straßenbahn mit ihren Linien Nr. 2, 3, 8 und 9 gibt die Möglichkeit, mit der Bahn anzureisen. Auch die Frühschicht der Hasper Hütte ist auf dem Schlackenberg mit Blick auf den Platz fast komplett angetreten, um den Spielen beizuwohnen. Die Fenster und Dachluken der umliegenden Wohnhäuser sind ebenfalls beliebte Plätze mit Blick auf das Spielgeschehen. So erklärt sich, dass bis zu 10 000 Zuschauer einen Platz suchen.

 

Nach den Spielen ging es für viele dann immer noch nicht nach Hause. An den Theken und Tischen der beiden Traditionsgaststätten „Holteys Katz“ in der Rehstraße 2 und im „Goldenen Reh“ in der Rehstraße 38 wurde noch lange nach dem Abpfiff über das Spielgeschehen diskutiert. So manches Mittagessen in den heimischen Wohnungen wurde darüber kalt… Der Handballsport in und um die Rehstraße hatte eben einen höheren Stellenwert.

 

Der Zuspruch dieser Zuschauermassen – Ende der 1940er- und Anfang der 1950er-Jahre übertrug der WDR die besonders gut besuchten Heimspiele im Rundfunk – hatte natürlich seinen Grund. Die Eintracht-Handballer gehörten in diesen Jahren zur absoluten Spitzenklasse. Fast in jeder Spielzeit sprach die Mannschaft im Kampf um den Westfalentitel und die Westdeutsche Meisterschaft ein gewichtiges Wörtchen mit. Viermal ging die Westfalenmeisterschaft nach Hagen, dreimal der westfälische Vizetitel. 1951 gelang der westfälische Pokalsieg, ein Jahr später der Vize-Pokalsieg.

 

Ich selbst hatte das große Glück, von 1957 bis 1962 Teil dieser großartigen Mannschaft sein zu dürfen, danach ging die Ära des Feldhandballs auf dem Rehplatz zu Ende. Größter Erfolg war die Teilnahme an der Deutschen Meisterschaft 1961, als wir erst im Viertelfinale mit einer 11:12-Niederlage gegen den späteren Europapokalsieger Frisch-Auf Göppingen die Segel streichen mussten.

 

Es wurde in diesen Jahren in den Wintermonaten immer durchgespielt, teilweise bei Eis und Schnee, so dass ein schneebedeckter Boden keinen Spielausfall nach sich zog. In den Halbzeitpausen wurde nicht in die Kabinen gegangen, sondern es wurde der so genannte „Pausentee“ auf dem Platz eingenommen. Auch ein Spielerwechsel war nicht möglich. Bei Verletzungen musste die betroffene Mannschaft in Unterzahl weiterspielen. Für die jungen Handballer und deren Freunde bot die Rehstraße mit ihrem starken Gefälle von der Eugen-Richter-Straße bis hinunter zur Wehringhauser Straße im Winter nach frischem Schneefall übrigens eine ideale Rodelstrecke, bis der Streuwagen dem Spaß ein jähes Ende bereitete…

 

Wenn es in dieser Zeit per Reisebus zu den Auswärtsspielen ging, war der Treffpunkt die Rehstraße (an der Gaststätte Holtey). Auch damals gab es schon Spesen: Drei D-Mark für ein Heim-, fünf D-Mark für ein Auswärtsspiel, was vom Wirt noch aufgestockt wurde. Die Nichtraucher im Team bekamen eine Tafel Schokolade, die Raucher eine Packung Zigaretten. Dafür waren wir oft den gesamten Sonntag unterwegs. Die Spielersitzungen hingegen wurden im „Goldenen Reh“ abgehalten. Die hier besprochene Taktik muss meist recht stimmig gewesen sein, denn so mancher Gegner erfuhr leidvoll, dass die Trauben hoch hingen an der Rehstraße. Im Hof der Gaststätte befanden sich die Umkleiden. Viele deutsche Spitzenhandballer waren hier zu Gast. Von dort aus ging es zum Platz am Rehsieper Weg. So mancher Nationalspieler ist diesen Weg erhobenen Hauptes geschritten und nach dem Spiel zurückgeschlichen – mit hängenden Schultern.

 

Mit der Fusion im Jahr 1962 zum VfL Eintracht Hagen endete dann der Spielbetrieb auf der Rehstraße – die Legende des Platzes indes ist bis heute erhalten geblieben.